So werden Lasten richtig angehoben: aus den Knien und mit bereits angespannter Rückenmuskulatur. Grafik: © IGR e.V.
Ausbildung zum „Ergonomie-Coach Produktion“

Gefährliche Bewegungsmuster erkennen und verbannen

Beschäftigte in der Produktion leisten nicht unbedingt schwere körperliche Arbeit, leiden aber häufig unter monotonen oder unnatürlichen Bewegungsabläufen. Eine ergonomisch durchdachte Arbeitsumgebung könnte dies verhindern – häufig wird das Problem jedoch erst wahrgenommen, wenn der Körper nicht mehr mitspielt. Das dreitägige Seminar „Ergonomie-Coach Produktion“ befähigt dazu, ergonomische Probleme an Fertigungsarbeitsplätzen umgehend zu identifizieren und zu lösen. Über die speziellen Anforderungen in der Produktion sowie Inhalte und Ziel des Seminars sprachen wir mit Referent Christian Brunner.

Herr Brunner, seit einigen Jahren bieten die Mensch&Büro-Akademie und die IGR e.V.  die Ausbildung zum Ergonomie-Coach Verwaltung an. Warum gibt es nun auch einen Lehrgang zum Ergonomie-Coach Produktion?

In der Produktion hat das Thema eine ganz andere Notwendigkeit. Bücken, Heben, Tragen sind hier an der Tagesordnung. Diese klassischen Anforderungen in der Fertigung gibt es im Büroalltag selten – dort besteht die Herausforderung eher darin, die Menschen aus der um sich greifenden Bewegungsstarre zu lösen. Dauersitzen ist extrem ungesund. Sie wissen ja: „Sitzen ist das neue Rauchen!“

Nicht weniger riskant sind jedoch monotone, unnatürliche Bewegungsabläufe: In der Fertigung haben wir es häufig mit Körperrotationen oder Körpervorhaltungen zu tun, zum Beispiel bei der Fließbandarbeit. Dafür ist unser Bewegungsapparat ebenfalls nicht ausgelegt. Das Problem: Die ständigen „Verrenkungen“, Fehl- und Überlastungen werden zunächst kaum bemerkt, gehen aber ganz schön auf die Knochen. Insgesamt sind die körperlichen Anforderungen in den Fabriken schon ganz anders als in der Verwaltung, sodass man ihnen auch anders begegnen muss.

Welche Bedeutung hat Ergonomie an Fertigungsarbeitsplätzen? Werden die sogenannten weichen Faktoren von den „harten Männern“ in den Produktionsstätten nicht eher belächelt?

Das Interesse, das Thema Ergonomie wirklich umzusetzen, wird in allen Unternehmen größer. Vorher hatte es häufig eine Alibifunktion, inzwischen sind Akzeptanz und Nachfrage aber deutlich gestiegen. Ein Grund für diese Entwicklung ist der demografische Wandel: Unternehmen kämpfen mit der Problematik, dass ihre Mitarbeiter in die Jahre kommen beziehungsweise die gesamte Belegschaft altert, zudem macht sich der Fachkräftemangel verstärkt bemerkbar. Insofern liegt es im ureigenen Interesse der Unternehmen, anfallende Tätigkeiten so gestalten, dass sie von den Beschäftigten möglichst lange ausgeübt werden können. Leider spüren Mitarbeiter und Unternehmen die Folgen einer dauerhaften Fehlbelastung häufig erst, wenn es dafür schon zu spät ist. Sprich, meist ist eine hohe Fehlzeitenquote Auslöser, ernsthaft in die Prävention einzusteigen.

Sorgt der technische Fortschritt nicht schon für Entlastung?

Ganz klar: Alles was durch Roboter ersetzt werden kann, wurde und wird ersetzt. In der Kollaboration von Mensch und Maschine stecken neben neuen Risiken in der Tat auch große Potenziale: Es gibt inzwischen Hebehilfen zum „Gewichtstemmen“ oder Exoskelette zur Unterstützung bestimmter Bewegungsabläufe, die Beschäftigte wirksam entlasten können. Der Einsatz von Letzteren steht momentan noch am Anfang. Zurzeit laufen jedoch vielversprechende Pilotprojekte, so zum Beispiel mit dem sogenannten chairless chair, dem stuhllosen Stuhl, in der Automobilindustrie. Eine Stehhilfe wäre dort ja eher eine Stolperfalle.

Sind diese Entwicklungen auch Gegenstand des Seminars?

Im Seminar werden verschiedene Bewegungsabläufe aus der Produktion vorgestellt, um Gefährdungen erkennen zu können. Zum Beispiel geht es um die Frage: Wie häufig hebt ein Mitarbeiter aus einer ungünstigen Position heraus ein Gewicht an? Ab wann ist mit ernsten Beeinträchtigungen der Gesundheit zu rechnen? Dazu stellen wir auch ein Online Tool der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) vor, das eine schnelle Einstufung erlaubt.

Die Bandbreite an Tätigkeiten innerhalb der Produktion ist jedoch groß und die Schulungsteilnehmer kommen vermutlich aus verschiedenen Branchen. Wie werden Sie dem gerecht?

Die Anforderungen unterscheiden sich natürlich schon, beispielsweise auf dem Bau, in der Reinigungsbranche, im Handwerk oder in der Industrie. Allen ist jedoch gemein, dass unser Körper in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Frage muss also lauten: Wie kann ich die Rahmenbedingungen unterstützend gestalten, welche Produkte und Lösungen bieten sich dazu an? Hinzu kommt die Frage nach der gekonnten Vermittlung und Ansprache: Wie kann ich den Beschäftigten überzeugend darlegen, welches Verhalten für sie am gesündesten ist, also die wenigstens Belastungen hervorruft? Ein erklärtes Ziel des Seminars ist ja auch, die Teilnehmer zu dieser Überzeugungsarbeit zu befähigen, sie zu Coachs auszubilden, die ihre Erkenntnisse zur Ergonomie gezielt unter die Leute bringen können. Dazu erhalten sie von uns auch das passende Handwerkszeug. Grundsätzlich ist in der Produktion aber die Verhältnisergonomie von größerer Bedeutung als die Verhaltensergonomie. Das ist ebenfalls ein Unterschied zur Verwaltungsarbeit: Dort ist es umgekehrt.

Können Sie den Seminarablauf einmal kurz skizzieren?

Am ersten Tag erfolgt zunächst eine Einführung in die Ergonomie, zudem studieren wir gemeinsam die Grundlagen der Anatomie. Ohne Kenntnisse über Muskeln, Knochen, Bänder, Sehnen, Gelenke, ihr Zusammenspiel im menschlichen Bewegungsapparat und den Aufbau der Wirbelsäule fehlt der Blick für ungesunde Körperhaltungen.
Am Tag zwei erarbeiten wir dann eine Bewertungsmethode zur Gefährdungsbeurteilung, definieren noch einmal den Begriff Ergonomie und klären die rechtlichen Grundlagen. Am dritten Tag geht es hauptsächlich um eine praktische Vertiefung mit vielen aktiven Übungen. Die Teilnehmer erleben quasi am eigenen Leib, wie sich Belastungen anfühlen beziehungsweise Verbesserungen erzielt werden.

An wen richtet sich das Seminar?

Die Weiterbildung empfiehlt sich für Mitarbeiter aus den Bereichen Arbeitssicherheit, Arbeitsmedizin, Betriebliches Gesundheitsmanagement und Personal sowie für Dienstleister rund um das Thema Gesundheit in Unternehmen. Ideal ist eine Gruppenstärke von 12 bis 16, die Mindestzahl liegt bei acht Teilnehmern.

 

Sie wollen „Ergonomie-Coach Produktion (IGR e.V. zert.)“ werden?

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Die Referenten des Seminars:

Christian Brunner
Christian Brunner ist Diplom-Kaufmann und absolvierte ein Studium zum Gesundheitsmanagement. 1991 kam er zur Interessengemeinschaft der Rückenschullehrer/-innen (IGR e. V.), der er seit 1999 vorsitzt. Der ausgewiesene Fachmann und Sachverständige für Themen rund um Ergonomie, Arbeitsplatzgestaltung und Rückengesundheit unterstützt Firmen jeder Größe auf ihrem Weg zum „gesunden Unternehmen“ – vom Kleinbetrieb bis zum Global Player.

Dorothea Hilgert
Dorothea Hilgert ist Diplomsportlehrerin und Referentin für Betriebliches Gesundheitsmanagement. Ihre Vorträge und Seminare sind geprägt von ihrer humorvollen Art, mit der sie die Zuhörer unmittelbar erreicht und in ihren Bann zieht – auch medizinisches Hintergrundwissen wird auf diese Art zur „leichten Kost“. Die erfahrene Pädagogin versteht zudem zu motivieren: Ihre aktiv vermittelten Praxistipps können sogleich in der persönlichen Umgebung angewendet werden.