Die Referenten Prof. Dr.-Ing. Martin Schmauder (links) und Prof. Dr. Sascha Stowasser
Foto: Jauch
Nachbericht: Tag der Ergonomie 2019

Wich­tigs­ter Beglei­ter im digi­ta­len Wandel

Wo bleibt der Mensch in der fortschreitenden Digitalisierung? „Im Mittelpunkt“, so die Vorgabe beim „Tag der Ergonomie 2019“ in Mannheim. Acht Ergonomiespezialisten zeigten, welche Herausforderungen mit diesem Anspruch verbunden sind.

„Als Ergonomen müssen wir den    Wandel positiv unterstützen. Niemand anders kann das“, erklärte Prof. Dr. Sascha Stowasser vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) im Eröffnungsvortrag. Das große Interesse an der Veranstaltung zeigte, dass viele Betriebe hier Bedarf sehen: Mit 121 Teilnehmern war das Tagesseminar in Mannheim restlos ausgebucht.

Technologien auf der Überholspur

„75 Prozent der Arbeitssysteme verändern sich“, ließ Stowasser keinen Zweifel an der Größenordnung der Aufgabe. Ein Trend sei, Informationen näher an den Menschen zu bringen – so etwa durch Handschuhe mit Sensoren zur Datenerfassung oder durch Datenbrillen, die neue Dimensionen für das Lernen und Arbeiten eröffnen. Wie benutzerfreundlich diese Technologien seien, müsse sich erst zeigen – denn die Normung hinke der Entwicklung hinterher. Noch ungelöst erscheine zum Beispiel die Hygienefrage: „Werden diese Geräte nach Arbeitsende gereinigt?“ Zudem gelte es, unnatürliche Handhaltungen bei der Nutzung von Tablets und Smartwatches in der Produktion zu vermeiden.

Eine Frage der Ethik

Auch die Mensch-Roboter Kollaboration und der Einsatz von Exoskeletten werfe noch viele Fragen auf: „Was, wenn der Träger hinfällt? Wohin verlagert sich die Belastung, etwa bei Überkopfarbeiten?“ und wiederum „Wie steht es um die Hygiene?“, nannte Stowasser einige Beispiele. Besonders klärungsbedürftig sei der Einsatz aktiver Exoskelette, der ethische Grundhaltungen in der Gesellschaft berühre. „Wollen wir aktive Exoskelette, also einen höheren Leistungsanspruch?“ gab Stowasser zu bedenken. Zunehmend ins Spiel kämen mobile Sensoren zur Bewegungsanalyse und künstliche Intelligenz, die womöglich die menschliche Souveränität untergrabe. „Die Zukunft gehört nicht nur dem Hochglanz-Wissensarbeiter, sondern es zeichnet sich schon jetzt auch eine Zunahme von Einfacharbeit ab.“

Smarte Kleidung und „Motion Capturing“ seien völlig neue Aspekte für die Ergonomie. „Hier müssen wir ganz anders einwirken, und zwar möglichst frühzeitig im Produktionsprozess“, befand Stowasser. Bei den vielen Anbietern und Angeboten, die sich bereits auf dem Markt tummelten, könnten nur die Arbeitsplatzgestalter eine richtige Auswahl treffen. Gleichzeitig werde die Ergonomie immer individueller und berücksichtige die Anforderungen jedes einzelnen Arbeitsplatzes und Mitarbeiters – im Sinne der Menschen und der Unternehmen: „Wir müssen schauen, dass Arbeitsplätze gesund und attraktiv sind, um gute Leute zu halten.“

Weiche Faktoren berücksichtigen

Einen Eindruck davon, wie schwierig sich ein Normierungsprozess gestalten kann, vermittelte Dr. Michael Bretschneider-Hagemes von der Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN). Als Arbeitnehmervertreter begleitet er die Revision der DIN EN 10075–2 „Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung“. Anlass dazu gab die Forderung, psychische Belastung mit anderen Belastungen gleichzustellen. Eine grundsätzliche Ablehnung gegenüber Normungen im nicht technischen betrieblichen Bereich gebe es zwar nicht mehr, die Haltungen dazu seien aber noch „diffus“, bemängelte der Referent. Immerhin gelte die Verabredung, dass soziale Faktoren nicht mehr ausgeklammert werden sollen. Überarbeitungsbedürftig sei auch das „Wording“: Statt von Arbeitgebern und Beschäftigten sei in der DIN von Konstrukteuren und Operateuren die Rede.

Bildschirme auf dem Vormarsch

Die Zeiten, in denen Bildschirme nur in Büros Verwendung fanden, sind vorbei: In der Produktion, im Labor, in Krankenhäusern, am Empfang, in Geschäften, Gaststätten oder auch daheim greifen Monitore um sich. „Ich habe einen neuen Backofen mit Display“, gab Prof. Martin Schmauder von der TU Dresden ein Beispiel aus dem Alltag. Der Vorstoß von Bildschirmen in alle Arbeits- und Lebensbereiche werfe allerdings die Frage auf, wann Bildschirmarbeit vorliege. Beim Kellner, der Bestellungen mit dem Tablet aufnimmt? Bei der Kassiererin an der Registrierkasse? Am Hotelempfang? „Wir müssen uns von der klassischen Vorstellung mit dem Bildschirm auf dem Schreibtisch und dem Rechner darunter lösen“, so Schmauder. Dies führe jedoch zu einer schwierigen Abgrenzung in der Frage: Was ist Bildschirmarbeit? Wo ist die Grenze?

Ein maßgebliches Kriterium für Bildschirmarbeit sei ein dauerhaft eingerichteter Arbeitsplatz, ein weiteres, dass eine Interaktion zwischen Nutzer und Rechner zur Datenverarbeitung stattfinde. Kein Telearbeitsplatz liege vor, wenn Bildschirme nur zur Informationsanzeige oder nur zur Maschinensteuerung dienten. Maßnahmen zur Gestaltung von Bildschirmarbeit enthalte Anhang 6 der Arbeitsstättenverordnung. Konkretisiert würden diese durch die neue ASR A6 „Bildschirmarbeit“, die derzeit in Arbeit sei. „Bildschirmarbeit hat den Ruf, krank zu machen und die Augen zu schädigen“, erklärte Schmauder. Das stimme zwar nicht – sie sei eher Indikator statt Ursache für eine schwache Sehleistung – doch die Dosis mache das Gift. Die neue ASR A6 solle den Betrieben als Leitplanke für gute Arbeit dienen. „Wir wollen keine Überregulation, sondern definieren einen gewissen Stand der Technik zur Orientierung.“

Bewegungsfreiheit vonnöten

Die Technik presche voran und ermögliche vieles, was nicht unbedingt praktikabel sei, befand Andreas Stephan, Leiter des Sachgebiets Büro im DGUV-Fachbereich Verwaltung bei der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG). „In Malibu am Strand arbeiten – klingt toll, geht aber nicht, denn dort erkennen Sie nichts auf dem Bildschirm.“ Die Preisfrage laute: Wie sieht das Büro der Zukunft aus? An Regelungen mangele es nicht, sie müssten nur angewendet werden. So etwa in Bezug auf den Platzbedarf von Büroarbeitern, der in der ASR A1.2 definiert sei. „Achtung, auch Verkehrswege und Bediengänge müssen in gewisser Größe eingeplant werden!“, betonte der Fachmann.

Allein für Tisch, Container, Stuhl und Verkehrsweg seien 5,175 Quadratmeter zu veranschlagen. Die Raumfrage sei auch deshalb so wichtig, da Bewegungsmangel zu den größten Gesundheitsrisiken bei der Bildschirmarbeit zähle. Neben einem ausreichenden Bewegungsfreiraum solle die Arbeitsumgebung möglichst viele Haltungswechsel ermöglichen. Hier seien auch die Arbeitnehmer selbst gefragt: Durch Information sollten sie darin bestärkt werden, Selbstverantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen.

Kopf und/oder Herz erreichen

„Es braucht mehr Kompetenz beim einzelnen Mitarbeiter“, stieß Christian Brunner vom Institut für Gesundheit und Ergonomie e. V. (IGR) ins gleiche Horn. Ergonomen müssten mit ihren Botschaften „in die Birne oder ins Herz des Mitarbeiters kommen“, so der Fachmann. Um den Mitarbeitern gesunde Verhaltensweisen schmackhaft zu machen, verwende er vier „Gewürze“: wissenschaftliche Erkenntnisse, selbstgemachte Erfahrungen („Lassen Sie einen Mitarbeiter einfach mal zu hoch oder zu tief sitzen!“), Visualisierung, zum Beispiel mithilfe der Wirbelix-Modellfigur, und unterhaltsame Elemente – Ergotainment „Ich halte Mitarbeitern zum Beispiel ‧einen Spiegel vor. Dann sieht er sich zum ersten Mal selbst am Arbeitsplatz und korrigiert automatisch seine Haltung.“

Wichtig: Ergonomie-Marketing

Unterhaltsame Einlagen mit Lerneffekt ließ Brunner auch in seinen Vortrag einfließen. So animierte er die 121 Teilnehmer dazu, sich wechselseitig den Rücken abzuklopfen und zu kneten, um die positiven Auswirkungen unmittelbar spürbar zu machen. Grundsätzlich empfahl er, gesunde Handlungen zu ritualisieren. „Ihre Zähne putzen Sie selbst im Vollrausch – weil es ritualisiert ist.“ Um nachhaltige Verhaltensänderungen zu erwirken, müssten Ergonomen nicht zuletzt Marketing betreiben: „Schieben Sie nicht einfach neue Stühle in den Raum. Zelebrieren Sie die neuen Möbel“, riet er den Versammelten.

Wie sie ihren Mitarbeitern Gesundheits- und insbesondere Ergonomiethemen näherbringen, erläuterten anschließend Sarah Müller und Robert Rupertseder von der MAN Truck & Bus AG. „Um alle zu erreichen, gehen wir mit unseren Angeboten direkt in die Werkhalle“, erklärte Sarah Müller – auch eine Form von Marketing im Sinne ihres Vorredners. Unter den insgesamt 11.000 Beschäftigten gebe es noch Personen, die den hauseigenen Gesundheitsdienst nicht kennen. „Wir haben den Handlungsbedarf in Sachen Ergonomie erkannt und derzeit 40 Ergonomie Coaches im Einsatz – und es werden noch mehr“, ergänzte Robert Rupertseder. Zudem habe er eine vierstündige Standardveranstaltung zum Thema „Gesund und ‧sicher im Büro“ entwickelt, die inzwischen 1.000 Mitarbeiter besucht hätten.

Wo bleibt der Mensch?

Mit Praxisszenarien aus dem Future Work Lab schlug Stefanie Findeisen vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) noch einmal einen Bogen zum Einführungsvortrag: Assistenzsysteme seien eine Antwort auf die steigenden Anforderungen im Produktionsumfeld, hätten sich aber noch nicht richtig in der betrieblichen Praxis durchgesetzt. Sie sollen die Mitarbeitenden bei ihren Aufgaben unterstützen, nicht ersetzen, betonte die Referentin. Die Unterstützung könne auf unterschiedliche Art erfolgen: kognitiv, zum Beispiel durch einen verbesserten Informationsfluss; physisch, etwa mithilfe von Exoskeletten, oder sensorisch – in Arbeitssituationen, bei denen die menschlichen Sinnesorgane an ihre Grenzen stoßen. Die meisten Assistenzsysteme hätten eine digitale Komponente, ergänzte sie.

Ein Problem, das bereits Prof. Dr. Sascha Stowasser in seiner Einführung ansprach, sieht Findeisen im möglichen Autonomieverlust: „Ich habe eine neue elektrische Zahnbürste. Nach einigen Minuten Vibration schaltet diese selbsttätig ab“, nutzte sie ein Beispiel aus dem Hausgebrauch. „Es ärgert mich, dass die Maschine entscheidet, wann der Putzvorgang beendet ist.“ Damit der Mensch im Mittelpunkt bleibt, müsse die Entwicklung „weg vom technologiezentrierten Ansatz hin zum Problemlösungsfall“, forderte sie. „Unser Appell lautet: den Fokus auf den Nutzer setzen, ihn in den Gestaltungsprozess einbeziehen.“

Marktplatz für Ergonomie

In der Begleitausstellung präsentierten 13 Aussteller aktuelle Produkte für eine ergonomische Arbeitsumgebung und -ausrüstung. Viele Besucher nutzen die Gelegenheit zum Gespräch an den Ständen und zum Austausch mit anderen Teilnehmern. Aufgrund der großen Resonanz auf die Veranstaltung wird es auch 2020 wieder einen „Tag der Ergonomie“ geben.

www.tag-der-ergonomie.de